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Die französischen Alpen © pixabay

Frankreich

Schutzwaldwirtschaft in Frankreich

Ein Artikel von Dr. Frédéric Berger, IRSTEA | 02.05.2019 - 09:37
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Steinschlagschutznetze können Menschenleben retten. © F. Berger

Der relative Rückgang des Holzwertes führt in vielen Bergregionen Frankreichs zu einer Simplifizierung oder völligen Aufgabe forstwirtschaftlicher Aktivitäten. Durch nicht mehr nachhaltige Nutzung oder unzureichende Pflegemaßnahmen droht die wichtige Schutzfunktion vieler Wälder in diesen Gebieten zu verschwinden. Um diesem Problem zu begegnen, entwickelte die französische Staatsforstverwaltung ONF in Zusammenarbeit mit dem nationalen Institut für Umwelt- und Agrartechnische Forschung (IRSTEA) sowie den Regionalen Zentren für Privatwaldwirtschaft (CRPF) 1996 eine Methodik sowie ein Instrumentarium zur Klassifizierung von Schutzwäldern als „forstliche Prioritätszonen“. Die praktischen, technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dieser Entwicklungsarbeit wurden schließlich in einem „Waldbauleitfaden für Bergwälder“ (GMF) formalisiert, zunächst (2006) für den nördlichen, später (2012) auch für den südlichen Teil des französischen Alpenraums.

Historische Hintergründe
Es ist schwierig, von der Schutzfunktion der französischen Bergwälder zu sprechen, ohne die Geschichte der Entwaldung zu berücksichtigen. Noch bis 1860 wurde aktiv gerodet (hauptsächlich für Ackerbau, Viehzucht und Brennstoffgewinnung), was zu starker Bodenerosion führte und das Risiko von Überflutungen drastisch erhöhte. Die Waldfläche Frankreichs am Vorabend der Französischen Revolution (1789) wird auf 9 Mio. ha geschätzt (vgl. 30 Mio. ha zu gallorömischer Zeit). 1791 wurde ein erstes Gesetz zur Regulierung der Entwaldung erlassen, in dem deren Konsequenzen für die Berge sowie für die „Fruchtbarkeit der Ebenen“ erwähnt sind. Folgenschwere Flutkatastrophen in den Jahren 1840 (landesweit), 1856 (im Alpenraum) und 1859 überzeugten den französischen Staat schließlich, das erste Gesetz (28. Juli 1860) zur Wiederaufforstung der Bergregionen zu erlassen. Für die Umsetzung und Überwachung dieses Gesetzes wurde 1861 innerhalb der nationalen Gewässer- und Forstkommission eine Abteilung für Gebirgsrenaturierung geschaffen. 1922 wurde mit dem Schutzwaldstatus die heute in der französischen Gesetzgebung strengste Schutzkategorie für Waldökosysteme geschaffen. Die Notwendigkeit, die Rolle der Gewässer- und Forstkommission anzupassen, führte 1964 zur Schaffung der nationalen Forstbehörde ONF, die heute einer der Hauptakteure in den Wäldern Frankreichs ist (Gesamtwaldfläche 2017: 16,9 Mio. ha).

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Schutz vor Steinschlag spielt im Alpenraum eine wichtige Rolle. © LIEVOIS J.

Risikoanalyse und Zonierung
Parallel zum Aufbau der Forstverwaltung erließ Frankreich spezifische Gesetze zum Schutz vor Naturgefahren. In Bezug auf den Bergwald waren hierfür abermals Naturkatastrophen ausschlaggebend. Die beiden entscheidendsten ereigneten sich 1970 (Lawinenunglück mit 32 Todesopfern, Murenunglück mit 72 Todesopfern). Seither basiert die Risikopräventionsstrategie und -politik Frankreichs auf der Risikomodellierung mittels „Stakes-Risks-Analyse“.
Das Grundprinzip dieser Methode beruht auf der datenbasierten Gegenüberstellung der Naturgefahren mit den vor ihnen zu schützenden sozioökonomischen Werten. Das Prinzip wurde im „Berggesetz“ von 1995 verankert, das die Erstellung von Risikopräventionsplänen (RPP) fordert. Diese Pläne sind heute eines der wichtigsten politischen Instrumente zum Management von Naturgefahren in Frankreich. Ein RPP stellt für ein bestimmtes Gebiet auf Karten die von Naturgefahren betroffenen Areale, die gefährdeten sozioökonomischen Werte und schließlich die Zonierung dar, anhand der die Landnutzung reglementiert werden soll, vor allem im Hinblick auf Bautätigkeit: „Rote Zone“ = Bebauung verboten, „Blaue Zone“ = Bebauung unter Einschränkungen erlaubt, „Weiße Zone“ = Bebauung uneingeschränkt erlaubt. Basierend auf den Ergebnissen der eingangs erwähnten Kooperation von IRSTEA und ONF wurde das System 2003 um eine „Grüne Zone“ erweitert, in der der Wald eine wichtige Rolle beim Schutz vor Naturgefahren spielt. Die zur Kartierung und Einstufung von Waldbeständen hinsichtlich ihrer Schutzfunktion verwendete Methode berücksichtigt Art und Ausmaß der präsenten Naturgefahren, die Schadensanfälligkeit der zu schützenden Werte sowie die Struktur der Bestände. Letzteres geschieht anhand dendrometrischer Kenngrößen (Grundfläche, Höhe, mittlerer BHD). Auf dieser Grundlage werden „forstliche Prioritätszonen“ definiert und die Kosten der waldbaulichen Maßnahmen ermittelt, die erforderlich sind, um die Schutzfunktion in diesen Zonen sicherzustellen. Der Begriff „Priorität“ bezieht sich hierbei auf zweierlei Aspekte: Zum einen die Schadanfälligkeit der zu schützenden sozioökonomischen Werte, zum anderen die Stabilität der betreffenden Waldbestände und damit die Dringlichkeit waldbaulicher Maßnahmen.

Waldbaulicher Leitfaden
Der letzte Schritt auf dem Weg zu einer besseren Schutzwaldwirtschaft wurde 2006 beziehungsweise 2012 mit der Ausgabe des eingangs erwähnten Waldbau-Leitfadens GMF getan. Dieser Leitfaden, der im Rahmen eines EU-Interreg-Projekts (FR, CH, IT) entwickelt wurde, enthält Richtlinien für die optimale Bewirtschaftung der französischen Alpenwälder, mit besonderem Fokus auf Schutzwald. Jeder Förster kann darin essenzielle Informationen, aussagekräftige Indikatoren sowie detaillierte Referenzen finden. Der Leitfaden beschränkt sich auf die montane und subalpine Höhenstufe. Die wichtigsten Situationen werden anhand von Erfolgsgeschichten veranschaulicht.

Die Richtlinien wurden auf der Basis von Praxiserfahrungen französischer und schweizerischer Förster unter Hinzuziehung des ähnlichen Schweizer Leitfaden NaiS entwickelt. Dabei standen sechs zentrale Ideen im Mittelpunkt:

  • Arbeit mit der natürlichen Dynamik der Wälder
    Verfolgung einer Mischwaldstrategie (Baumartenvielfalt, Bestandesstruktur, Produktdiversität)
  • Verbesserung der Bestandesstabilität (Artenvielfalt, Mehrschichtigkeit, Ungleichaltrigkeit)
  • Berücksichtigung besonderer operativer Herausforderungen hinsichtlich Erschließung und Holzernte
  • Bevorzugung plenterartiger Hiebe (Einzelstamm-/Gruppen-)
  • Aufrechterhaltung und Optimierung der Schutzfunktion

Nach zwölf Jahren praktischer Anwendung ist es nun an der Zeit, den GMF auf der Basis von Försterfeedback und neuen Erkenntnissen zu aktualisieren. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei der überregionalen Harmonisierung der Methodik der Schutzwaldkartierung sowie der waldbaulichen Richtlinien gelten. Im Falle von Steinschlagschutzwäldern wird dies bereits im Rahmen des EU-Interreg-Projekts „RockTheAlps“ getan.

Webtipps:
>www.pole-gestion.fr/doc/notice/guide-des-sylvicultures-de-
montagne-alpes-du-nord-francaises

>www.gebirgswald.ch/de/home.html
>www.alpine-space.eu/projects/rockthealps/en/home