Mit dem neuen § 1319b („b“ wie Baumhaftung) ABGB konnte eine wesentliche Lücke des Zivilrechts geschlossen werden. Bisher kannte das ABGB nämlich keine eigene Bestimmung über die schadenersatzrechtliche Haftung für Schäden durch fallende Bäume oder Baumteile. Vielmehr setzte der Oberste Gerichtshof (OGH) schon seit den 1950er-Jahren Bäume mit Bauwerken gleich, was dazu führte, dass es seither – doch letztmalig für Schadensereignisse, die vor dem oder am 30. April 2024 eingetreten sind – im Haftungsfall zur Beweislastumkehr gekommen ist. Das bedeutete, dass sich im Fall der Baumhaftung der Halter des Baumes nur dadurch entlasten konnte, dass er beweisen konnte, alle zur Abwendung der Gefahr erforderliche Sorgfalt aufgewendet zu haben.
Auch wenn es sich von selbst versteht, dass Bäume keine Bauwerke (und auch nicht mit Bauwerken gleichzusetzen) sind und als Gebilde der Natur keine mangelhafte Beschaffenheit im Sinne der Bauwerkshaftung aufweisen können, hat dies noch vor wenigen Wochen (also, vor Inkrafttreten des HaftRÄG 2024) ganz anders ausgesehen. Der Baumhalter hatte im Schadensfall seine Schuldlosigkeit zu beweisen, weil er es – so die Rechtsvermutung – in der Hand hatte, eine mangelnde Beschaffenheit seines Baumes rechtzeitig zu erkennen und für geeignete Abhilfe zu sorgen. Ein naheliegendes Bestreben vieler Baumhalter war daher, auf der „sicheren Seite“ zu bleiben – was zu den zahlreichen starken, sicher oft auch überschießenden Eingriffen geführt hatte. Besonders häufig waren von solchen Rückschnitte oder Fällungen gerade auch Bäume betroffen, die wegen ihres hohen Alters einen besonderen ökologischen wie auch gesellschaftlichen Wert haben.
Halter des Baums
Für den Zustand des Baums verantwortlich und somit Träger der Haftung ist weiterhin der „Halter“ des Baumes. Baumhalter wird in der Regel der Eigentümer der Liegenschaft sein, auf der der Baum steht. Es kommt jedoch auch ein Mieter oder Pächter, auch jede sonstige natürliche oder juristische Person, die die Halterpflicht vertraglich oder konkludent (etwa durch Durchführung von Pflegemaßnahmen) übernommen hat, als Baumhalter infrage.
Wegfall der Beweislastumkehr
Der wesentliche Vorteil für Bäume und ihre Halter ergibt sich aus dem Wegfall der Beweislastumkehr. Der neue § 1319b ABGB regelt die Baumhaftung als klassische Verschuldenshaftung für die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, wobei der Geschädigte den Schaden und das Verschulden des Schädigers beweisen muss. Der Baumhalter muss also die erforderliche Sorgfalt bei der Prüfung und Sicherung des Baumes vernachlässigt haben. Kriterien für die Beurteilung der Sorgfaltspflichten des Baumhalters umfassen insbesondere den Standort, die standortbezogene Gefahr und spezifische Eigenschaften des Baumes (wie Größe, Wuchs und Zustand).
Als wesentliche Beurteilungsrichtlinie dafür steht der auch in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich angeführte und in den parlamentarischen Debatten präsentierte Leitfaden „Baumsicherheitsmanagement – Bäume sichern und erhalten“ zur Verfügung. Dieser Leitfaden wurde im Rahmen der Plattform „Österreichische Baumkonvention“ in Zusammenarbeit aller relevanten Experten entwickelt, wird derzeit vom „Forum Baumkonvention“ im Hinblick auf die neue Rechtslage überarbeitet und stellt den Stand der Technik dar. Die jeweils aktuelle Version des Leitfadens kann unter www.baumkonvention.at kostenlos heruntergeladen werden.
Naturbelassener Zustand
Zudem kommt es ausdrücklich auf die Zumutbarkeit möglicher Prüfungs- und Sicherungsmaßnahmen an. Bei der Beurteilung der dem Baumhalter zumutbaren Maßnahmen ist der neuen gesetzlichen Regelung zufolge insbesondere auch das Interesse an einem möglichst naturbelassenen Zustand des Baumes angemessen zu berücksichtigen. Dabei kann es sich um Bäume in Nationalparks oder sonstigen Schutzgebieten handeln, um Naturdenkmäler oder einfach um Bäume, die für ihre natürliche Umgebung von besonderer Bedeutung sind (etwa Bäume in dicht verbautem Stadtgebiet). Hier sollen zukünftig im Zweifelsfall Absperrungen oder Gefahrenhinweise ausreichen.
Buchtipp: Der Baum im Nachbarrecht - Peter Herbst, Gernot Kanduth, Gerald Schlager, Verlag: NWV im Verlag Österreich
Gemeinwohl und Eigenverantwortung
Neu ist auch, dass die Bedeutung zweier im Zusammenhang mit Bäumen besonders wichtiger Aspekte in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich betont wird, nämlich einerseits die Bedeutung der Gemeinwohlwirkung der Bäume, andererseits der Eigenverantwortung potenziell Geschädigter.
Die Gemeinwohlwirkung – also die multifunktionellen Wirkungen der Bäume, Baumbestände und Wälder – begründet ein hohes Allgemeininteresse an der Erhaltung besonders von alten und großen Bäumen, welches bei der Beurteilung von Sicherungserfordernissen gegenüber etwaigen Baumrisiken abwägend mitzuberücksichtigen ist.
Unter dem Aspekt der Eigenverantwortung kann vom Einzelnen erwartet werden, dass er sich bei erkennbaren Gefährdungssituationen von Bäumen fernhält. Die Pflicht des Baumhalters zur Baumsicherung geht daher nicht so weit, dass er auch in solchen Situationen erhöhten Risikos Sicherungsmaßnahmen ergreifen müsste, die den Einzelnen vor Schäden durch fallende Bäume oder Baumteile schützen würden.
Forstgesetz
§ 1319b ABGB gilt nicht für Bäume, die Bestandteil eines Waldes im Sinne des Forstgesetzes sind. Trotz einer sehr wald- und baumhalterfreundlichen Linie von Lehre und Rechtsprechung in den letzten Jahren ist die Frage der Waldrandhaftung rechtlich nicht geklärt. Das Forstgesetz enthält dazu nämlich keine klaren Regeln, für den Waldeigentümer besteht in dieser Hinsicht noch keinesfalls Rechtssicherheit. Die günstige Gelegenheit, die derzeitige höchstgerichtliche Linie anlässlich der Forstgesetz-Novelle im November 2023 im Forstgesetz festzuschreiben und damit auch am Waldrand Rechtssicherheit zu schaffen, wurde leider versäumt.