Die Serbische Fichte (Picea omorika) gehört im deutschen Kulturraum zum Vorgarten der 1960er- bis 1980er-Jahre wie die Waschbetonplatte oder der Jägerzaun. Gleiches gilt für die Stechfichte (P. pungens), auch „Blaufichte“ genannt, die aus den südlichen Rocky Mountains stammt. Letztere durfte als damals beliebtester Christbaum auch ins Wohnzimmer. Forstlich werden diese beiden Baumarten in Mitteleuropa dagegen kaum angebaut. Wozu auch? In Sachen Wuchsleistung können sie der heimischen Gemeinen Fichte (P. abies) nicht das Wasser reichen. Bei der Stechfichte kommt noch ihre extreme Grobastigkeit hinzu, die selbst dem Harvester die Holzernte erschwert. Weshalb also diese Exoten pflanzen? Im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien ist genau dies geschehen – und zwar in großem Stil.
Es ist Mai 2019, und ich stehe zusammen mit Mitgliedern des Deutschen Forstvereins bei Nieselregen auf dem Hauptkamm des Erzgebirges, im Rücken die tschechische Grenze, und blicke hinunter nach Sachsen. Von Natur aus wäre hier oben, auf etwa 800 m Seehöhe, die Gemeine Fichte dominant. Auf den Bergrücken um uns stockt jedoch ein zerzauster Mix aus exotischen Nadelhölzern, vor allem Stechfichte, Serbische Fichte und Hybridlärche – ein Mosaik aus Grüntönen von Türkis bis Limette. Kaum ein Baum ist hier älter als 40 Jahre, und einige, vor allem die Stechfichten, sehen arg mitgenommen aus. Was ist hier passiert? Das erklärt uns Ingo Reinhold vom Landesbetrieb Sachsenforst, Leiter des örtlichen Forstbezirks Marienberg.
Im Herzen des Waldsterbens
Die Region, in der wir uns befinden, war in den 1970er- und 1980er-Jahren in Umweltschützerkreisen als „Schwarzes Dreieck“ bekannt, denn sie galt als Zentrum des europäischen „Waldsterbens“. Hier schwaderten die Rauchgase – Schwefel- und Stickoxide – aus dem Nordböhmischen Braunkohlerevier, das fast vollständig von Gebirgszügen umschlossen ist, langsam über Erzgebirge und Sudeten in die nördlichen Nachbarländer der damaligen Tschechoslowakei hinüber – in die DDR und nach Polen. Dabei wurden sie von den Fichtenwäldern der Gebirgskämme entweder „ausgekämmt“ oder gingen als saurer Regen darüber nieder. Drehte der Wind auf Nordwest, kam es zu Immissionen aus den ostdeutschen Braunkohlerevieren. Auch die im Ostblock noch bis zur Wende weit verbreitete Verwendung von Kohleöfen zur Gebäudeheizung trug zu den Einträgen bei.
Für die heimische Gemeine Fichte waren die Immissionen tödlich: Das Schwefeldioxid drang über die Spaltöffnungen in ihre Nadeln ein und störte die Fotosynthese, während der saure Niederschlag Spaltöffnungen und Cuticula (= Wachsschicht der Nadeln) verätzte, sodass die Bäume ihren Wasserhaushalt nicht mehr regulieren konnten und vertrockneten, sobald über die Wurzeln kein Wasser mehr nachzog – etwa bei Frost. Zudem führte der saure Regen zu starker Bodenversauerung: Nährstoffe wie Calcium und Magnesium wurden ausgewaschen, Giftstoffe wie Aluminium und Schwermetalle freigesetzt, die die Feinwurzeln der Bäume schädigten und ihre Abwehrkräfte schwächten. Letzteres führte auch in den Buchenwäldern der Region, in denen die Verätzung der Blattorgane dank des winterlichen Laubwurfs weniger ins Gewicht fiel, zu Schäden, die sich vor allem in verminderter Fruktifizierung äußerten. Das Ausmaß der Waldzerstörung im „Schwarzen Dreieck“ war europaweit beispiellos: Allein in den sächsischen Mittelgebirgen wurden 120.000 ha Wald geschädigt, wovon 10.400 ha komplett abstarben.
Aussichtslose Situation
An eine Reduzierung der Rauchgasemissionen war im Ostblock nicht zu denken, im Gegenteil: Die kommunistischen Regime planten den weiteren Ausbau der Kohleindustrie bis mindestens 2020. Für eine technische Lösung des Problems fehlten die Ressourcen. In den staatlich gelenkten Medien wurde die Umweltkatastrophe totgeschwiegen. Eine breite gesellschaftliche Debatte wie in Westdeutschland, wo das Waldsterben den Aufstieg der Grünen beflügelte? Im Osten undenkbar. In dieser aussichtslosen Situation schlug die Stunde der Förster.
Findige Förster
„Es galt damals, den Wald – in welcher Form auch immer – zu erhalten, um eine Versteppung der Landschaft zu verhindern, die unabsehbare ökologische Folgen gehabt hätte“, erläutert Reinhold, der die damalige Zeit und ihre Tücken in lebhafter Erinnerung hat: Er selbst wuchs in der DDR auf und absolvierte in den 1980er-Jahren sein Forststudium in der Sowjetunion. Vor der Leistung seiner Vorgänger hat er angesichts der damaligen Herausforderungen größten Respekt.
Als den Forstleuten klar wurde, dass sie die wichtigsten Nadelbaumarten der Region – Gemeine Fichte und Weißtanne (Abies alba) – bis auf Weiteres nicht retten konnten, steckten sie all ihre Energie in die Suche nach schadstoffresistenten Ersatzbaumarten. Ihr Ziel: in den Todeszonen einen „Interimswald“ zu schaffen, der so lange durchhalten musste, bis sich die umweltpolitischen Rahmenbedingungen änderten – mutmaßlich also ein halbes Jahrhundert, wenn nicht länger.
Resistente Exoten
Die Pionierarbeit dazu leisteten einzelne Revierförster bereits um 1970. Ein Name, auf den man im sächsischen Erzgebirge in diesem Zusammenhang besonders stolz ist, ist Helmut Kluge (Amtszeit 1964–1990), dessen Revier um den Grenzort Deutscheinsiedel als eines der ersten vom Waldsterben heimgesucht wurde. Kluges Kampf um „seinen“ Wald begann damit, dass er auf den geräumten Schadflächen heimische Pionierlaubgehölze säte, vor allem Moorbirke (Betula pubescens), außerdem Sandbirke (B. pendula) und Vogelbeere (Sorbus aucuparia). Dazu führte er das Verfahren der Schneesaat wieder ein, das damals in Vergessenheit geraten war. Außerdem experimentierte Kluge als einer der ersten mit der Pflanzung exotischer Nadelgehölze. Letzteres wurde gegen Ende der 1970er zur Hauptstrategie gegen das Waldsterben im „Schwarzen Dreieck“.
Auf dem Höhepunkt der Katastrophe (1978–1984) arbeiteten ostdeutsche, polnische und tschechoslowakische Forstleute zusammen, sodass sich die damals entstandenen Interimswälder heute grenzübergreifend ähneln. Deutlich wird dies bei unserem Abstecher ins tschechische Nachbarforstamt Litvínov. Hier schildern uns Pavel Rus, Leiter der Forstdirektion Teplice, und Forstamtsleiter Jiři Sedláček vom Staatsforstbetrieb Lesy ČR die Entwicklung ihrerseits der Grenze, die essenziell die gleiche war wie in Sachsen:
Bei der Suche nach Interimsnadelbaumarten setzte man vor allem auf solche mit dickerer Cuticula, die zum Teil in Begasungskammern getestet wurden. Schließlich kamen vier Arten in die engere Auswahl: Stechfichte, Serbische Fichte, Drehkiefer (Pinus contorta) und Balkanstrobe (Pinus peuce). Diese wurden im Folgenden in großem Stil gepflanzt – zum Teil unter Rekrutierung der Lokalbevölkerung zu Pflanzeinsätzen an Wochenenden. Ebenso großflächig pflanzte man Lärchen, die man wegen ihres winterlichen Nadelwurfs für überlebensfähig hielt, namentlich Europäische (Larix decidua) und Japanische Lärche (L. kaempferi) sowie Hybriden dieser beiden Arten.
Im Rückblick waren die Interimsbestockungen, was ihre primäre Aufgabe betrifft, ein Erfolg: Die Vegetationsform „Wald“ konnte in den Schadgebieten gehalten werden. Als dauerhafte Ersatzwälder erwiesen sie sich hingegen kaum als geeignet. Die eingeführten Fichten- und Kiefernarten wurden äußerst anfällig für Pilzkrankheiten. So fielen etwa die Stechfichtenbestände ab 2010 fast vollständig dem Fichten-Knospensterben (Erreger: Gemmamyces piceae) zum Opfer. Die Lärchen blieben vitaler, dafür machten sich in ihren Beständen zunehmend Schnee- und Sturmschäden bemerkbar. Was die Holzqualität betrifft, die bei der Auswahl der Interimsbaumarten und -herkünfte zweitrangig gewesen war, war schon früh klar, dass aus den meisten Beständen kaum mehr als Industrieholz herauszuholen sein würde. Glücklicherweise – und gänzlich unverhofft für die Förster der 1980er – wehte zwischenzeitlich der „Mantel der Geschichte“, wodurch ihre Zeitplanung völlig hinfällig wurde.
Unverhoffte Wende
Der Zusammenbruch des europäischen Kommunismus im Schicksalsjahr 1989 brachte auch umweltpolitisch die Wende: Im Laufe der 1990er-Jahre wurden marode Industrien stillgelegt, heimische Kohleöfen durch Gasheizungen ersetzt, die Kohleförderung in Ostdeutschland und Tschechien zugunsten anderer Energiequellen zurückgefahren und verbleibende Kohlekraftwerke in allen drei Ländern des „Schwarzen Dreiecks“ mit modernen Filter- und Entschwefelungsanlagen nachgerüstet – nicht zuletzt dank umfangreicher Hilfen seitens der EU.
Aktueller Waldumbau im tschechischen Erzgebirge: Kulturen aus Weißtanne und Vogelbeere (umzäunt) sowie aus Gemeiner Fichte © J. Parschau
Vom Interims- zum Zukunftswald
Forstlich konnte nun früher als erwartet mit der ökologischen Restaurierung der Schadgebiete begonnen werden – ein Prozess, der bis heute andauert und voraussichtlich noch kommende Generationen beschäftigen wird. Dabei stellt die Bodenversauerung das größte Problem dar. Durch wiederholte Kalkungen versucht man, diesem zu begegnen. Im Forstbezirk Marienberg sind bislang je nach Standort bis zu vier Kalkungen erfolgt, die ersten bereits vor der Wende. So konnte der pH-Wert in den oberen Bodenschichten von Tiefstwerten um 2,5 wieder auf das ursprüngliche Level zwischen 4 und 7 angehoben werden. Die tiefsten Horizonte sind jedoch nach wie vor versauert – möglicherweise irreversibel, da auch das Grundgestein (v. a. Gneis) basenarm ist und daher kaum puffern kann. Für Tiefwurzler, wie Weißtanne und Rotbuche (Fagus sylvatica), könnte dies langfristig zum Problem werden. Nichtsdestotrotz ist es gelungen, die Buchenwälder des Bezirks durch Kombination von Kalkungen und Femelhieben wieder zu reicher Fruktifizierung und Naturverjüngung zu bringen.
Die Interimswälder werden seit der Jahrtausendwende in großem Stil umgebaut. Ziel ist es hier, die heimischen Baumarten zurückzubringen und zugleich langfristig stabile Bestände zu schaffen, die ihren vielfältigen Funktionen (Holzversorgung, Wassermanagement, Habitatschutz, Tourismus etc.) gerecht werden. Zudem müssen die Zukunftsbestände mit der neuen großen ökologischen Herausforderung zurechtkommen – dem Klimawandel. Langfristige Standortgerechtigkeit, Struktur- und Artenvielfalt sind daher von zentraler Bedeutung.
In den exotischen Fichten- und Kiefernbeständen erfolgt der Umbau meist über Auslichtung und anschließenden Voranbau mit Gemeiner Fichte, je nach Standort auch mit Weißtanne, Rotbuche und anderen heimischen Baumarten. So werden etwa im Forstbezirk Marienberg die durch Pilzbefall wertlos gewordenen Stechfichtenbestände reihenweise gemulcht und mit heimischer Fichte vorangebaut. Auch im Forstamt Litvínov sieht man heute zwischen den Resten der Interimswälder wieder überall junge Pflanzungen heimischer Fichte. Außerdem zeigen uns Rus und seine Kollegen Mischkulturen aus Weißtanne und Vogelbeere. Die Vogelbeere dient dabei den Jungtannen als Schirm und trägt mit ihrem Laub zur Bodenverbesserung bei. Zudem dient sie dem geschützten Birkhuhn (Lyrurus tetrix) als Äsung, das als Halboffenlandbewohner vom Waldsterben profitierte, dessen Bestände seither aber wieder rückläufig sind. Auch auf deutscher Seite wird dem Birkhuhn geholfen – durch Belassung von Blößen, aufgelockerte Waldrandgestaltung und Vogelbeerpflanzungen im Weitverband.
Bei der relativ stabilen Lärche strebt man eine Bewirtschaftung der Interimsbestände bis zu standortgemäßen Zielstärken an. Im Forstbezirk Marienberg werden die heute etwa 30- bis 40-jährigen Lärchenbestände dazu seit etwa 2012 alle fünf Jahre mäßig durchforstet, wobei der Fokus auf Entrümpelung, Stabilisierung und Schadholzaufarbeitung liegt. Die aus Schneesaat entstandenen Birkenbestände werden auf deutscher Seite hingegen schon seit den 1990ern mit heimischer Fichte unterbaut. Dabei ließ man einige der ältesten, heute etwa 50- bis 60-jährigen Moorbirkenbestände auf anmoorigen Standorten unangetastet, da sich dort eine ökologisch wertvolle Zwergstrauchflora gebildet hatte. Diese Bestände sollen sich zu ausgewachsenen Birken-Moorwäldern entwickeln, einem nach FFH-Richtlinie geschützten „prioritären Lebensraumtyp“. Auch entwässerte Hochmoore werden zurzeit – grenzübergreifend – renaturiert.
Für den Erfolg der aktuellen Waldentwicklungskonzepte ist eine Anpassung der Wilddichte unerlässlich. Im sächsischen Staatswald sorgt dafür die Regiejagd. In Tschechien ist die Situation komplizierter, da die Jagd dort im Staatswald zumeist verpachtet ist. Entsprechend häufiger muss gezäunt werden. Dieser und viele andere Aspekte des neuerlichen Waldumbaus werden im Erzgebirge – und darüber hinaus – kontrovers diskutiert, was bei der Komplexität des Themas nicht verwundert.
Das Waldsterben hat das europäische Umweltbewusstsein nachhaltig geprägt. Seine Rezeption reicht heute von apokalyptischer Mystifizierung über Relativierung bis hin zur völligen Leugnung. Ein Besuch im ehemals „Schwarzen Dreieck“ hilft dabei, sich die Kernzusammenhänge in Erinnerung zu rufen und offenbart gleichzeitig, welch großen Beitrag die Forstwissenschaft zur Überwindung ökologischer Krisen leisten kann.