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Moschee aus dem 18. Jhd. im Dorf Kruszyniany, das von den Tataren bewohnt wird. Die Tataren leben seit 600 Jahren in diesem Teil Polens. © T. Rawa

Polen

Der polnische Urwald im Wandel

Ein Artikel von Aleksandra Fedorska | 01.02.2021 - 17:36

Kurz gefasst

  • Puszcza Białowieska besteht aus mehreren Waldgebieten, die insgesamt 150.000 ha groß sind.
  • Der Nationalpark wird von der polnisch-belarussischen Grenze durchschnitten.
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Die Bäume im Nationalpark Białowieza nehmen manchmal sehr ungewöhnliche Formen an. © T. Rawa

Wie so viele andere Lebensbereiche ist auch der Urwald mittlerweile ein Teil des Umbruchs und des Wandels in Mittelosteuropa geworden. Es gilt als geradezu schick, sich aus dem Trubel Warszawas von Zeit zu Zeit in die Stille des Urwaldes zurückzuziehen. Politiker und gefragte Manager kokettieren gern mit der inspirierenden Wirkung eines Rückzugs in die Natur. Erleichtert wird ein derartiger mentaler Wellnesstrip dadurch, dass der überstrapazierte Prominente das Walddomizil innerhalb von drei Stunden mit dem Auto erreichen und somit auch schnell wieder verlassen kann, um sich in seinen Großstadtalltag zurückzubegeben.

Der Nationalpark
Die Puszcza Białowieska ist streng genommen ein Waldgebiet, das sich aus einer Vielzahl von Wäldern zusammensetzt. Die Gesamtfläche von 150.000 ha wird von der polnisch-belarussischen Grenze durchschnitten. Auf der polnischen Seite liegen knapp über 60.000 ha. Davon werden etwa 10.000 ha als ursprüngliches zusammenhängendes Waldgebiet definiert. Umgangssprachlich spricht man daher vom Urwald. Dieses Gebiet genießt seit 1921 besonderen Schutz und ist ein Nationalpark. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1947 der Status des Nationalparks von den Kommunisten bestätigt, jedoch anfänglich auf eine Fläche von knapp 6.000 ha beschränkt. Seit den späten 1970er-Jahren zählt der Urwald zum UNESCO Weltkulturerbe. Mittlerweile konnte der strenge Schutz auf über 10.000 ha erweitert werden. Andererseits ist über die Hälfte des Nationalparks für touristische Gruppen mit entsprechenden Auflagen geöffnet worden. Im Jahr 2016 waren aber 42% des Nationalparks für Außenstehende nicht zugänglich. Im restlichen Urwald ist der Zutritt nur für kleine Besuchergruppen und in Begleitung eines Naturführers möglich. Im Nationalpark werden keinerlei Waldarbeiten oder Ähnliches durchgeführt, weshalb auch der Nationalpark kein Gegenstand der Proteste von 2017 war. Die Proteste und die Konflikte um den Holzeinschlag bezogen sich auf Wälder jenseits des Nationalparks, die aber umgangssprachlich als ein Gebiet verstanden werden, obwohl sie unterschiedlichen Schutzgesetzen unterstellt sind.

Jenseits des Nationalparks verändert sich jedoch die gesamte Region immer mehr. Zwar sind die Bedingungen für einen Massentourismus weder gegeben noch gewünscht, doch wird die Region heute als Kulturraum entdeckt. Auch wenn noch heute sich die meisten Besucher eine Begegnung mit dem Wisent oder dem Wolf in freier Natur wünschen, nimmt die Zahl der Kultur- und Geschichtsinteressierten deutlich zu. Naturfreunde bleiben aber nach wie vor die größte Besuchergruppe.

Die Regionen um Białowieża
Während die meisten Regionen Polens von einer überwiegend römisch-katholischen Bevölkerung bewohnt werden, ist die Region um Białowieża ein Schmelztiegel der Religionen. Die sakralen Gebäude, die nicht selten mitten im Waldgebiet liegen, gehören mehrheitlich zum religiösen Ritus der orthodoxen Kirche. Ein Großteil der Bewohner hat belarussische Wurzeln. In der Region sind aber auch tatarische Moscheen zu finden. Längst werden hier Kulturereignisse, Festivals und Sommerfeste veranstaltet, mit denen dieses besondere Kulturerbe der Region gepflegt wird und den Besuchern präsentiert werden soll. Auch hier wirkt sich die Nähe zur polnischen Hauptstadt Warszawa mit ihren knapp 1,8 Mio. Einwohnern positiv aus. Vielen Interessierten ist es möglich, kurzfristig über das Wochenende an derartigen Kulturveranstaltungen teilzunehmen.

Die polnische Popkultur hat unlängst auch die östlichen Grenzregionen des Landes entdeckt, zu den typischerweise auch die Puszcza Białowieska zählt. Eine der bekanntesten polnischen Krimiautorinnen, Katarzyna Bonda, widmete ihrer Heimatstadt Hajnówka eine ihrer aufregendsten Stories und arbeitete damit die belarussische Geschichte ihrer Familie auf.

Die Technische Hochschule in Białystok hat im Jahr 2016 die Übernachtungsmöglichkeiten in der Puszcza Białowieska untersucht. Allein auf dem Gebiet der bekanntesten Ortsgemeinde Białowieża befanden sich 77 Gasthäuser und Hotels. Das polnische Amt für Statistik veröffentlichte zu diesem Thema Ende 2019 eine genaue Übersicht und stellte fest, dass seit gut einer Dekade die Zahl der Übernachtungen jährlich um mehr als 6% zunimmt.

Der Kulturtourismus wird immer lebendiger
Neben Białowieża entwickelt sich auch Hajnówka zum neuen Zentrum des Kulturtourismus in der Region. Wachsende Professionalität des örtlichen Tourismus, nationale und europäische Förderfonds, aber vor allem ein tiefer Mentalitätswandel bei den Besuchern eröffnen heute ganz neue Möglichkeiten. Großer Nachfrage erfreuen sich Touren, die sowohl den polnischen als auch den belarussischen Teil des Urwaldes zeigen. Gerade die Migration vieler Belarussen nach Polen in den letzten Jahren hat die Neugierde in Bezug auf das Nachbarland geweckt. Das gilt auch für die kulinarischen Freuden. Immer mehr Polen sind in Straßenrestaurants und Schnellimbissen auf den Geschmack der Küche dieser Region gekommen, die vorher den allermeisten Polen völlig unbekannt war.

Neu entdeckt werden auch die Architektur, die Küche, die Gewürze und Speisen der Waldregion im Nordosten. Lange galt dieses Gebiet als Armenhaus Polens mit schlechter Infrastruktur und wenigen Arbeitsplätzen. Heute sind die Stille und der Naturreichtum das größte Potenzial. Die Herbergen und sonstige Angebote sprechen Besuchergruppen an, die weder auf Sonderangebote noch Schnäppchen aus sind. Dies macht es möglich, stabile Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen und die wirtschaftliche Situation der Region nachhaltig zu verändern.

Ein besonders Angebot richtet sich an Kinder und Jugendliche. Die als „grüne Schule” bekannten Ferienaufenthalte sind eine willkommene Möglichkeit, die in Polen ziemlich langen fast 10-wöchigen Sommerferien interessant und gesund zu gestalten. Viele Polen unterteilen die Schulferien in der Regel in drei Abschnitte, von denen ein Teil der Familienurlaub ist, der nächste einen Besuch bei den Großeltern umfasst und als drittem Teil im Ferienlager stattfindet. Grüne Schulen in Puszcza Białowieska werden immer beliebter, weil sie eben nicht mehr ausschließlich aus Waldwanderungen bestehen, sondern auch den Charakter eines Bildungsurlaubs haben. Museumsbesuche, Ortsbegehungen und die Gespräche mit Naturführern sind dabei für die Stadtkinder nicht weniger aufregend als ein Urlaub am Meer.