Wald und Wild

Alles für den Schutzwald?

Ein Artikel von Dr. Karoline Schmidt, Wildbiologin | 28.08.2025 - 14:26
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© Karoline Schmidt

Konkret: Hat Gamswild dem Schutzwald gegenüber Vor- oder Nachrang? Und aufgrund welcher Kriterien? Im Schiffs-, Luft- und Straßenverkehr legen Vorrangregeln fest, welcher der Beteiligten in welcher Situation Vorrang hat, um gefährliche Situationen, Verletzungen und Zerstörungen zu verhindern. Klare Vorrangregeln könnten genau das auch in unseren Waldökosystemen leisten. Doch wir versuchen, die Wald-Wild-Problematik mit dem Konzept des „shared space“ zu lösen, „Wald mit Wild“ (als wäre ein „vor“ gleichbedeutend mit „ohne“), eine Begegnungszone ohne klaren, gesetzlich festgelegten Vor- und Nachrang für Wald oder Wild.
Aber zumindest in Schutzwäldern, die per Definition schützen und geschützt werden müssen, hat eine notwendige Waldverjüngung Vorrang, also Schutz vor Wildverbiss, oder? Es sind laut Forstgesetz Wälder „deren Standort durch die abtragenden Kräfte von Wind, Wasser oder Schwerkraft gefährdet ist und die eine besondere Behandlung zum Schutz des Bodens und des Bewuchses sowie zur Sicherung der Wiederbewaldung erfordern.“
Sollte eine „besondere Behandlung“ nicht auch eine gewisse Entlastung von Schalenwildverbiss beinhalten? Immerhin ist der vielerorts die Hauptursache für fehlende Verjüngung, sowohl natürliche als auch künstliche.

Oder verhindern vielleicht ganz andere Faktoren das Aufwachsen junger Bäume? Schließlich leidet der Wald auch massiv unter den Auswirkungen des Klimawandels, unter Stürmen, Hitze, Trockenheit, Starkregen. Es könnten deshalb auch klimatischen oder edaphische Faktoren, oder Samenfraß durch Mäuse die Ursache für die fehlende Verjüngung sein. Oder, wie Kritiker immer wieder anführen: mit „forstlichem Götterblick“ gemachte illusorische Vorgaben über die artenmäßige Zusammensetzung, die Pflanzung von nichtstandortgerechten Arten, krasse forstliche Fehler, unrealistische Betriebsziele, überforderte Forstleute, die die ökologische Dynamik kaum verstehen, fehlender Einsatz und fehlendes Wissen um die Verjüngungszeiträume im Bergwald und die Verjüngungsdynamik am Standort. Damit sprechen viele jagdlich engagierte Anwälten des Wildes den forstlich und waldbaulich Verantwortlichen die Kompetenz ab und unterstellen ihnen einen einseitigen Fokus auf Wildäser oder gar eine Vernichtungsstrategie gegen Gamswild. Zu Recht?

Folgen Eingeschränkter Schutzwirkung 
Ein unfreiwilliges Experiment zu dieser Frage wurde 2015 am Gamskogel/Rauchmäuer in Wildalpen begonnen. Aufgrund des seit den 1990er-Jahren vermehrt und wiederholt herabstürzenden Gesteins war es notwendig geworden, am Fuß des Gamskogels Steinschlagnetze zu verankern, 260 Laufmeter, vier Meter hoch, mit dynamischem Bremssystem und einer Aufnahmekapazität von 1.000 kJ, der Gipfel wurde in ein Stahlnetz gehüllt, um die stark eingeschränkte Schutzwirkung des Objektschutzwaldes auszugleichen. 

Österreichweit investierte die öffentliche Hand zwischen 2015 und 2020 rund 106,6 Mio. € in flächenwirtschaftliche Projekte dieser Art. Das sind nicht prognostizierte, „abenteuerlich hohe mögliche Schadensummen“, um forstliche Interventionsfreiheit zu erlangen, sondern bestehende Ausgaben für bereits bestehende Schäden. Bedarf steigend. Denn der Klimawandel lässt die Berge regelrecht zerbröckeln, der in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend häufigere Steinschlag wird in Zukunft noch häufiger werden. 
Freilich, weder Wälder noch technische Maßnahmen können 100%-igen Schutz bieten. Unstrittig ist auch, dass selbst die besten technischen Maßnahmen immer nur eine Ergänzung zur flächenhaften Schutzwirkung des Waldes sein können.

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Der Klimawandel lässt die Berge regelrecht zerbröckeln. © Karoline Schmidt

Schutzwälder sind keine Plantagen
Folgerichtig sind Schutzmaßnahmen in flächenwirtschaftlichen Projekten der Wildbach- und Lawinenverbauung (WLV) vor allem Maßnahmen zur Stärkung des Waldes. Es entspricht einem sorgsamen Umgang mit Steuergeld, wenn diese von der öffentlichen Hand finanzierten Projekte mit der Verpflichtung zur Instandsetzung des Waldes verbunden sind. Ohnehin muss in Schutzwäldern gemäß Forstgesetz §21 die Wiederbewaldung, die Verjüngung gesichert werden: Durch Pflanzungen mit standortangepassten Baumarten ebenso wie durch das Belassen von liegendem Totholz. Es schützt die Naturverjüngung kleinklimatisch und bei einer Kadaververjüngung ist der Keimling der konkurrierenden grasigen Bodenvegetation wortwörtlich überlegen. Nur müssen diese Setzlinge, ebenso wie natürlich aufkommende Sämlinge, aufwachsen können.
Nun kann man weder die gesamte Fläche noch jedes einzelne Bäumchen einzäunen oder wie Fingernägel mit geschmacklich abschreckenden Stoffen einstreichen („verstreichen“) um sie vor Verbiss schützen, ebenso wenig wie man jedes einzelne Bäumchen bewässern kann, um es vor Trockenheit zu schützen. Schutzwälder sind keine Plantagen.

„Aufgefressener“ Steinschlag- und Lawinenschutz
Sämtliche Wiederaufforstungen sind vergebliche Liebesmüh und verschwendetes Steuergeld, wenn das Schalenwild den natürlichen, nachwachsenden Steinschlag- und Lawinenschutz einfach auffrisst. Tut es das? Jedenfalls hat man das dem Wild auch in diesem Sanierungsprojekt in Wildalpen unterstellt. Gehegt und in das Gebiet gelockt hatte man das Wild bis 2011 durch eine Rehwildfütterung, die auch von Gams genutzt wurde, und bis 2015 durch zahlreiche Salzlecken.
Deshalb mussten sich die Grundeigentümer als Jagdrechtsinhaber dazu verpflichten, „durch ganzjährige Bejagung dafür zu sorgen, dass sich das Schalenwild während des Projektzeitraumes (30 Jahre) nicht im Projektgebiet einstellt“ – andernfalls müssten die Kosten (für die technische Verbauung, Aufforstung und mehr) zurückbezahlt werden. Und dieser Verpflichtung ist die Stadt Wien auf dem Gamskogel nachgekommen. Ergebnisoffen. Forstliche Vorgaben oder Ziele gab es keine.

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Gämsen – unbeeindruckt von ungefährlichen Wanderern © Karoline Schmidt

Ein Lehrstück auf 30 ha
Vielleicht ist an dieser Stelle jetzt eine Triggerwarnung angebracht: Die nachfolgende Beschreibung jagdlicher Vergrämungsmaßnahmen kann auf manche Leser verstörend wirken. 
Seit Projektbeginn 2015 werden auf der 30 ha großen Fläche Rehwild, Rotwild und Gamswild bejagt. Ganzjährig, alle Altersklassen beider Geschlechter, ausgenommen trächtiges oder führendes weibliches Wild. Erlegt wurden in den letzten zehn Jahren in Summe 13 Stück Reh- und 21 Stück Rotwild, und als offensichtliche Hauptwildart, 92 Stück Gamswild. Das sind durchschnittlich neun Gams pro Jahr. Auf 30 ha. Hochgerechnet auf die übliche Angabe pro 100 ha entspricht das 28 Stück/100 ha pro Jahr. Das ist etwa das 38-fache der höchsten Abschussdichte in Österreich, jener im Bezirk Lienz mit durchschnittlich 0,74 Stück/100 ha/Jahr (bezogen auf den Zeitraum 2015–2023).
Aber Hochrechnen ist hier etwa so sinnvoll, wie aus der Anzahl der Vierlingsschwangerschaften die Gesamtzahl der Neugeborenen abzuleiten. Relevant ist der Abschuss im Lebensraum der jeweiligen Population, in diesem Fall des Hochschwabmassivs, einer Fläche von rund 59.000 ha. Die intensiv bejagte Projektfläche stellt 0,05% des Lebensraumes dieser Population dar, oder – weil wir, was jagdbares Wild betrifft, meist in Revieren denken – nur 0,2% des Hochschwabreviers der Stadt Wien. In diesem wurden in den letzten zehn Jahren jährlich im Schnitt 0,98 Stück Gamswild/100 ha erlegt, also geringfügig über dem Lienz-Wert, aber deutlich unter den 1,5 Gams/100 ha, wie sie nachhaltig in Waldrevieren erlegt werden – und die Hochschwab Jagdfläche der Stadt Wien hat immerhin einen Waldanteil von über 60%.
Die auf jenen 30 ha erlegten neun Tiere (6% des Gesamtabschusses im Revier der Stadt Wien) ändern wenig an der Populationsdynamik der Hochschwabgämsen. Aber sie ändern alles für die Vegetationsdynamik auf diesen 30 ha: Auf den 70 bis 79° steilen Hängen des Gamskogels wachsen auf 600 bis 940 hm inzwischen Bergahorn, Birke, Eberesche, Eibe, Esche, Faulbaum, Felsenbirne, Fichte, Grauerle, Hasel, Lärche, Mehlbeere, Rotbuche, Rotkiefer, Traubeneiche, Weide, Wolliger Schneeball und zahlreiche Sträucher in Naturverjüngung und Tannen, die vor zehn Jahren gepflanzt worden waren.
Der Verbiss der Leittriebe oder Ersatzleittriebe ist für Bäume und Sträucher auf 10% gesunken. Selbst bei Bergahorn, der Hauptbaumart, sind in der ersten Höhenklasse (den zwischen 11 und 50 cm hohen Bäumchen) nur noch 15% an der Spitze verbissen. Vor Projektbeginn waren es laut Aufnahmen des Landesforstdienstes 76% gewesen.

Das Ergebnis ist eindeutig: Wo längerfristig nur wenig Schalenwild nur kurzfristig einsteht, kann eine artenreiche Verjüngung aufkommen. Und die ist dringend notwendig, solange noch Bestockung vorhanden ist. Denn der Baumbestand schützt den Boden vor Wind, Starkregen, Erhitzung und Trockenheit und damit den Lebensraum der jungen Bäume. Ganz besonders in Steillagen ist es wesentlich, die Verbissentlastung vorausschauend zu setzen, solange Wald und Waldboden noch vorhanden sind. Insofern steht das flächenwirtschaftliche Projekt Rauchmäuer in Wildalpen stellvertretend für die derzeit etwa 250 in Österreich laufenden Projekte im Objektschutzwald und ganz allgemein für alle sanierungsbedürftigen Schutzwaldflächen, auch wenn die Einschränkung der Schutzfunktion nicht auf allen Flächen gleichermaßen gravierend ist.

„Auf den Schutzwald können wir kein einziges Jahr verzichten“
In Wirtschaftswäldern ist die Frage, wie viel Wildeinfluss einen Wildschaden darstellt oder wie viele Jahrzehnte man auf Verjüngung verzichten kann, abhängig von den Betriebszielen, oft eine Abwägung von Holzpreis versus Einkünfte aus der Jagd und damit eine wirtschaftliche Entscheidung, wie kurz- oder weitsichtig auch immer.
Auf die Schutz- und Wohlfahrtsfunktion von Schutz-, Objektschutz- und Quellschutzwäldern können wir kein einziges Jahr verzichten, mangelnde Verjüngung kann hier finanziell nicht abgegolten werden. Hier geht es nicht, wie oft unterstellt, um jetzige oder künftige Holzernte: Von den dringend sanierungsbedürftigen Schutzwaldflächen der Österreichischen Bundesforste (ÖBf) etwa, des größten Waldbesitzers Österreichs, dessen Flächen überwiegend im alpinen Raum liegen, sind 62% Schutzwälder außer (!) Ertrag. Eine für das Aufkommen der Verjüngung notwendige Reduktion des Wildverbisses dient hier ausschließlich dem Erhalt des Waldbodens (wozu der Grundbesitzer im Forstgesetz §1(2)1 auch explizit verpflichtet ist) und damit des Waldes und seiner Schutzfunktion.

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Gams, zweifellos nicht im Schutzwald © Karoline Schmidt

Gamspopulationen können schnell sterben
Freilich können Wälder Jahre und auch Jahrzehnte fehlender Verjüngung verkraften. Deshalb stehen Bäume auch noch, wo seit rund 150 Jahren Schalenwild den gesamten (!) Nachwuchs auffrisst. Aber eben nur alte Bäume. Solange sie als Samenbäume noch stehen, muss Verjüngung aufkommen können. Wenn zu lange kein Nachwuchs aufwachsen kann, sterben auch Wälder.
Gämsen werden nicht 200, sondern nur 20 Jahre alt und Gamspopulationen können schnell sterben: Wenn die Sterblichkeit einige Jahre deutlich über dem Zuwachs liegt und es keine Zuwanderung gibt, kann eine Population zusammenbrechen. Räude zum Beispiel kann Populationen mitunter rasch und massiv reduzieren: In den Karnischen und Julischen Alpen in den 1970er-Jahren um rund 80%, in den Dolomiten innerhalb von drei Jahren um zwei Drittel, letztlich ebenfalls um rund 80%, spanische Steinböcke sogar um mehr als 95%. 

Sollten Gämsen deshalb im Schutzwald Vorrang haben?
Ja, meint der Verein „Wildes Bayern“, beruft sich dabei auf die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) der EU zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und legt in mehreren österreichischen Bundesländern Beschwerde ein gegen jede von der Behörde verordnete Freihaltezone und alle Zwangsabschüsse zur Regeneration des Schutzwaldes.
Zweck der FFH-Richtlinien ist der Erhalt der biologischen Vielfalt, der Schutz gefährdeter Arten und Lebensräume. Gämsen sind zwar keine akut gefährdete Art, aber aufgrund der für Schalenwild vergleichsweise langsamen Vermehrung und der hohen Wintersterblichkeit im alpinen Lebensraum ist eine sorgsame Bejagung angebracht. Deshalb sind Gämsen im Anhang V gelistet. Bedeutet: Vor der Abschussfreigabe muss der Bestand ermittelt werden, um sicherzustellen, dass sich der günstige Erhaltungszustand, aufgrund dessen sie bejagt werden dürfen, trotz Bejagung erhalten bleibt.
Vor allem müsse, so der Verein in seiner Beschwerde, die für den Erhaltungszustand entscheidende Sozialstruktur vor der Abschussfreigabe berücksichtigt werden. Auch das ist bei Gämsen, einer sozial lebenden Art, ein berechtigter Einwand. Eine artgemäße Populationsstruktur, also ein Alters- und Geschlechterverhältnis, wie es sich in von Menschen weitgehend unbeeinflussten Populationen einstellt, wird allerdings nicht durch punktuell „wahllosen“ Abschuss auf gefährdeten Flächen verhindert. Es sind die von der Jägerschaft erstellten Abschussrichtlinien, gültig in allen Jagdrevieren und die gesamte Population betreffend, die einen naturnahen Altersklassenaufbau verhindern, indem sie Trophäenträgern in einem viel zu jungen Alter der sogenannten Ernteklasse zurechnen, dann, wenn gemäß Ertragsgesetz kein wesentlicher Trophäenzuwachs mehr zu erkennen ist und die Altersansprache schwierig wird. Dann sind die Tiere im sozialen Sinn aber noch keineswegs alt, sondern gerade einmal „erwachsen“. Wollte man dem Gamswild eine artgemäße Populationsstruktur gönnen, müsste man die Abschussrichtlinien ändern. Das ist aufwendig.

Einfacher ist es, gegen Verordnungen Beschwerde einzulegen, auch wenn diese verordneten Abschüsse nicht der Befriedigung der Jagdleidenschaft dienen, sondern den Erhalt des Lebensraumes zum Ziel haben und damit langfristig ja auch der Wildart nutzen. 
Mit einer dieser Beschwerden bekam der Verein „Wildes Bayern“ im Dezember 2024 vor dem österreichischen Verwaltungsgericht Recht. Denn es gibt zwar die revierweisen Bestandesangaben der Jägerschaft als Grundlage für die Abschussplanung, aber diese Daten sind bisher nicht ausreichend koordiniert und vereinheitlicht erhoben worden. Es fehlen also genauen Zählungen, Zahlen, detaillierte Angaben und Berechnungen, um mögliche negative Auswirkungen der Abschussfreigabe auf den bestehenden günstigen Erhaltungszustand der Population vorauszusehen und zu verhindern – nur: Wann befindet sich das Gamswild in einem günstigen Erhaltungszustand? 

Diese Frage und weitere werden in Teil zwei der zweiteiligen Serie in der kommenden Ausgabe der Forstzeitung beantwortet.