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Auch Lawinenentstehung und Lawinenfolgen verändern sich im Klimawandel. © Pixabay

Interview mit Jan-Thomas Fischer und Anselm Köhler

Dumpfes Berggrollen

Ein Artikel von Robert Spannlang | 19.04.2023 - 17:04

Das Schweizer Wallis, das nordenglische Durham, die australische Hauptstadt Canberra, das unter norwegische Flagge stehende Spitzbergen im eisigen Nordmeer – das sind nur einige der ehemaligen Ausbildungs- und Wirkungsstätten zweier Forscher: des gebürtigen Rheinländers Dr. Jan-Thomas Fischer sowie des aus Niedersachsen stammenden Dr. Anselm Köhler. Heute beforschen die beiden Geophysiker Lawinen für das Bundesforschungszentrum (BFW) in Innsbruck – Ersterer als Leiter des Instituts für Naturgefahren, Zweiterer als Post-Doktorand am Institut.

Wie logisch ist es für einen Geophysiker, in seiner Laufbahn irgendwann auch mit der Forstwirtschaft zu tun zu bekommen?
Anselm Köhler (AK): Während meines Studiums hatte ich zunächst gar nichts mit Naturgefahren zu tun, sondern eher mit Erdölexploration und tiefgründige Bodenuntersuchung. Nach dem Diplomabschluss wollte ich mich thematisch neu orientieren und bin bei der Schnee- und Lawinenforschung fündig geworden. Beim Doktorat hat es dann mit der Lawinendynamik geklappt. Der Konnex zum Schutzwald war dann sehr eng.
Jan-Thomas Fischer (JTF): Bei mir stand der Forst im Schulalter schon auf einer Optionenliste. Der Heuschnupfen führte mich dann aber in die Geotechnik und über die Schnee- und Lawinendynamik landete ich dann doch wieder in einem forstlichen Forschungsinstitut. Aber auch in anderen Alpenländern wie der Schweiz und in Frankreich ist die Naturgefahrenforschung unter dem Dach forstlicher Forschungsinstitute. Aber auch arbeitstechnisch gesehen: Die Waldaufseher machten immer auch die Naturgefahren-Aufnahmen. Die Wildbach- und Lawinenverbauung ist ja auch im forstlichen Bereich angesiedelt.

Wie verändern durch Trockenheit geschwächte Wälder das Lawinengeschehen?
JTF: Da ist ein linearer Zusammenhang nicht so leicht festzumachen. Sehr wohl aber gibt es Wechselwirkungen mit dem Komplex Trockenheit – Sturm – Schneebruch insgesamt, die den Wald unter Druck bringen. Für Lawinen gilt, dass niederschlagsarme Jahre nicht unbedingt lawinenarme Jahre sind. Eher im Gegenteil: Geringmächtige Schneedecken sind eher instabil. Dann gibt es möglicherweise häufigere Kleinlawinen und erhöhte Unfallzahlen. Trockenjahre führen ja unter Umständen auch dazu, dass die Abflussbildung ganz anders funktioniert. Die Lawinenforschung beschäftigt sich jedenfalls schon stark mit den Themen Klimawandel und Extremereignisse. Großen Einfluss auf unsere Forschung haben auch die Art des Niederschlages – fest oder flüssig, und zu welchen Zeitpunkten dieser fällt.
Bieten also durch Trockenheit angezählte Wälder signifikant geringeren Lawinenschutz?
AK: Schutzwald verhindert zunächst einmal, dass Lawinen auslösen. Lösen sie sich oberhalb der Waldgrenze, dann kommt die eigentliche Schutzfunktion des Waldes vor Lawinen zum Tragen. In den bekannten Lawinenstrichen stehen ohnehin nur junge Bäume. Das größere Problem ist der ganze Komplex von durch Trockenheit geschwächtem Wald, Sturm und Käfer. Da bilden sich dann neue Flächen, wo Lawinen innerhalb der Waldzone entstehen können. Wenn dann noch eine Kombination von geringer Schneedecke und nachfolgendem Regen eintritt, der sie weiter destabilisiert, dann hat man Lawinen in geringeren Seehöhen, die häufig auch der baulichen Infrastruktur gefährlich werden können.
JTF: Deshalb sprechen wir nicht von „Trockenheit“, sondern allgemeiner von „Störungen“ im Schutzwald. Wir haben das gesehen ab 2018 – die Abfolge von Trockenheit, Schneebruch, dann wieder ein schneereicher Winter, dann der Käfer. Dadurch kommt der Wald gewaltig unter Druck. Wald kann ja unterschiedliche Schutzfunktionen haben – etwa Objekt- oder Standortsschutz. Ob und wie dieser Schutz dann noch wirkt, hängt stark mit dem Zustand des Waldes zusammen.

Müssen wir uns also auf neue Entstehungsdynamiken von Lawinen einstellen? Müssen wir erst erforschen, wie sich die Schutzwirkung gestresster Wälder verändert?
JTF: Es geht immer um ein integrales Management von Schutzmaßnahmen, und das beinhaltet technische wie forstliche Maßnahmen. Die Herausforderung wird sein, beides in einem ausgewogenen Konzept zu vereinen. Bei den naturbasierten Maßnahmen machen die forstlichen sicher den größeren Teil aus, aber auch die Ingenieurbiologie spielt hier herein. Ziel ist immer die nachhaltige Schutzwirkung an einem Hang. Aber auch historisch gesehen haben Wälder aufgrund ihres Zustandes phasenweise nicht die maximale Schutzwirkung bieten können.

Lawinenabgänge dauern oft nur zwei Minuten. Da machen Veränderungen von wenigen Grad Celsius Schneetemperatur große Unterschiede dabei, wie sich eine Lawine zu Tal bewegt.


Jan-Thomas Fischer

Wie hat sich denn die Lawinenforschung in den vergangenen 30 Jahren verändert?
JFT: Was sich verändert hat, ist möglicherweise die Wahrnehmung. Da spielen die Art und der Mix der Schutzmaßnahmen eine Rolle. Aber auch die Herausforderung Nachhaltigkeit ist heute nicht nur bedeutungsvoller, sondern auch schwieriger erreichbar, weil sich die standörtlichen Bedingungen heute dynamischer gestalten – in noch nicht immer völlig absehbare Richtungen. Also: Wie kann ich den klimafitten Schutzwald überhaupt erzeugen? Das hat unsere Vorfahren noch kaum beschäftigt. Für uns Lawinenforscher ist entscheidend, wie sich Niederschlag in seinem Wesen sowie seiner zeitlich-räumlichen Verteilung verändern wird. Bis auf welche Höhen haben wir noch festen Niederschlag? Welche Lawinenarten bringt das hervor? Wie wird all dies Extremereignisse beeinflussen? Denn nicht kleine häufige, sondern seltene, aber große Ereignisse beschäftigen uns vorrangig. Und die könnten tendenziell weniger selten werden. Aber das Schneefallgrenzen eher noch oben wandern, davon kann ausgegangen werden.

Hat sich in diesem Zeitraum auch die Art von Lawinenabgängen verändert? Gehen jetzt mehr Muren ab als früher?
AK:
Wo sich sehr viel getan hat, ist in der technischen Erfassung der Lawinen. Beobachtungen zwischen 1950 und 1980 basierten auf einer Ex-Post-Betrachtungen. Heute können wir etwa mit Radargeräten in Echtzeit in die Lawine sehen und den Abgang mitverfolgen – und das bei Nacht, bei Sturm oder bei Nebel. Bei dem Lawinentyp, der mittlerweile häufiger zu beobachten ist, löst sich hoch oben ein trockenes Schneebrett. Die daraus entstehende Staublawine wird auf dem Weg nach unten durch Reibungswärme und Aufnahme von regengetränktem Schnee zu einer Nassschneelawine. Wir können heute sehr genau das Fließregime von Lawinen und deren Übergänge deuten.
JTF: Man sollte sich vor Augen halten, dass Lawinenabgänge oft nur zwei Minuten dauern. Da machen Veränderungen von wenigen Grad Celsius Schneetemperatur große Unterschiede dabei, wie sich eine Lawine zu Tal bewegt. Entsprechend andersartig sehen Waldschäden aus. Die größten Waldschäden entstehen durch große Staublawinen unter kalten Bedingungen. Wenn sich zum Beispiel das Innere der Lawine von –4°C auf +1°C erwärmt durch die Bewegung, durch Aufnahme von Luft oder von Schnee, kann sich der Charakter der Lawine ganz schnell verändern und somit die Auswirkung auf den Wald. Wald ist viel resistenter gegenüber einer Fließlawine, die vielleicht bloß eine neue Schneeschicht erzeugt, als gegenüber einer Staublawine, die eher den Charakter eines Windwurfes hat.
AK: Eine Fließlawine folgt einem Graben, bei Staublawinen spielt die Geländeform eine geringere Rolle.
JTF: Nicht nur die Art von Lawinen verändert sich, sondern auch die Orte, wo sie entstehen. Auch französische Studien deuten darauf hin, dass es künftig häufiger Fließ- oder Nassschneelawinen auch in höheren Lagen geben wird. Gleichzeitig können große Staublawinen auch in tiefere Lagen vordringen – etwa über großen Windwurfflächen.

Stärkt der höhere Zuwachs im Bergwald durch mehr CO2 in der Atmosphäre nicht die Wirkung des Schutzwaldes?
JFT: Schneller wachsender Schutzwald wäre tendenziell eine gute Entwicklung im Hinblick auf Schutz vor Naturgefahren. Wie können wir aber Wald mit Schutzfunktion identifizieren? Und hier werden Prozesssimulationen und Geländemodellierungen immer wichtiger – für die Erforschung der Lawinenentstehung oder des Steinschlages bis zum Wirkungs- oder Ablagerungsbereich aber auch zur Frage, inwieweit sich das mit Schutzwald überschneidet. Auf schutzwaldkarte.at findet man hier brauchbare Unterlagen.

Die dynamische Waldtypisierung basiert auf der Wechselwirkung u.a. von Botanik, Geologie und Klima. Wie wichtig ist Interdisziplinarität bei der Naturgefahrenforschung?
JFT:
Bei den Parametern der Dynamischen Waldtypisierung spielt die Hydrologie eine wichtige Rolle. Sie ist also einer der großen interdisziplinären Überlappungsbereiche. Auch die genannte Schutzwaldkarte vereint das Wald- mit Prozesswissen über Naturgefahren. Die Lawinenmechanik entspräche etwa dem Abflussverhalten von Wasser Untergrund von Hängen.

Spielt bei all dem künstliche Intelligenz eine Rolle?
JFT: Sehr stark sogar! Bei der dynamischen Waldtypisierung lautet eine Herausforderung: Wie schaffe ich es, von einem Punkt auf die Fläche zu schließen? Auf der Basis vorgegebener Boden- oder Schneeprofile können solche selbstlernenden neuronalen Netzwerke Enormes leisten. Da braucht man wieder die passenden Fachleute – in unserem Fall sind es Meteorologen.
Warum eignet Radar ganz besonders gut zur Erforschung von Lawinen?
AK: Radar ist nichts anderes als ein bildgebendes Verfahren. Bei Lawinen gilt es ja vor allem, das Fließen des Schnees untersuchen. Ein einzelner Sensormast kann Temperatur, Drücke und Geschwindigkeiten in der Lawine nur an einem bestimmten Punkt feststellen, ein Radarmessgerät kann vom Gegenhang aus den kompletten Verlauf von der Auslösung bis zur Ablagerung erfassen. Ich kann durch die Wahl der Länge elektromagnetischer Wellen die Partikelgröße festlegen, die ich in der Lawine sehen möchte – und das auch bei Nebel oder Dunkelheit. Es gibt zwei Typen von Radarmessgeräten zu Lawinenbeobachtung: Ein einfacher zur Detektion von Lawinen – etwa um zu erfahren, ob die Sprengung der Lawine erfolg-
reich war oder ob eine Passstraße gesperrt werden muss. Der von mir im Rahmen der Doktorarbeit konzipierte und dann für das BFW entwickelte Typ ermöglicht es, räumlich-zeitliche Abläufe in der Lawine in hoher Auflösung zu beobachten.

Was war denn der Anstoß zur Entwicklung dieses Radargerätes?
AK:
Im Schweizer Wallis gibt es das weltweit größte Lawinen-Testgelände mit einer Fallhöhe von 1.300 m. Das BFW hat 2006 einen Messpylon und operationelles Radar dort aufgestellt mit einer Auflösung von 25 m und zehn Pulsen/sec. Dann gab es die Idee, ein Radar zu entwickeln, dass Lawinen noch viel detaillierter erfassen kann. Das war eine Kooperation mit den Universitäten von London und Durham. Heute haben wir ein Gerät mit einer Auflösung im 50 cm und 150 Pulse/sec – also eine Größenordnung genauer räumlich und zeitlich. Es kann zudem alle Daten der Sensoren, die in diesem Hang verbaut waren, in ein großes Bild bringen.
JFT: Die Frage war ja immer: Wie fließen Lawinen? Mit diesem Radargerät konnte man erstmals zeigen, wie stark Lawinen auf Temperaturunterschiede reagieren und wie sich dabei verändern.
AK: Zudem können die Daten des Radargerätes auch verwendet werden, um Modelle zu Erfassung der Schutzwirkung von Wäldern zu kalibrieren. Denn die wären sonst nicht genau genug, um solche Fließregime-Übergänge abzubilden. Das wird das große Thema der nächsten Zeit, die Modellparameter so zu wählen, dass sowohl Staub-, als auch Fließlawinen hinreichend genau beschrieben werden können.

Wie stark ist das Risikoempfinden in der Gesellschaft ausgeprägt – insbesondere gegenüber neuartigen Gefahrensituationen im Gebirge?
JTF: Extremereignisse wie die Lawine von Galtür 1999 sind immer Türöffner. Wir können ja immer im Vergleich dazu nur kleinere Abgänge beobachten. Aber wir können auch von derartigen Jahrhundertlawinen sehr viel lernen, auch, wenn wir Geschwindigkeiten und aufgetretene Kräfte nur rekonstruieren können. Risiko tritt ja erst dann auf, wenn Menschen in irgendeiner Form zu Schaden kommen. Naturgefahren werden immer über Eintrittswahrscheinlichkeiten definiert. Unsere heutigen technischen Möglichkeiten etwa via Satelliten, aber auch allgegenwärtige Handyvideos haben auch unser Spektrum der Wahrnehmung wesentlich vergrößert – von kleinen Abgängen auf der Piste bis Lawinen im hintersten Tal im Himalaya. Davon wird bei Weitem nicht alles wissenschaftlich untersucht, aber es steigert die Wahrnehmung, und das ist schon ein Wert an sich.
AK: Ich denke, wir haben die moralische Verpflichtung, das Wissen um Prozesszusammenhänge bei Lawinenabgänge, das wir in den Alpenländern in großem Maße zusammengetragen haben, auch in andere gebirgige Länder zu exportieren.

Meine Herren, besten Dank für das Interview!