Herr Seidl, seit wann ist das Thema „Störungsökologie“ Teil des wissenschaftlichen Diskurses?
Die Wissenschaft beschäftigt sich schon lange mit Störungsphänomenen wie Waldbränden und Windwürfen. Diese Ereignisse haben auch schon frühe Naturkundler fasziniert. Als Teildisziplin der Ökologie gibt es die Störungsökologie seit etwa Mitte der 1980er-Jahre. Anfangs lag der Schwerpunkt der Forschung zu Störungen vor allem in Nordamerika, in den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Feld jedoch auch in Europa etabliert.
Die Erdgeschichte war immer schon durch Störungen geprägt. Wie unterscheiden sich diese von den durch den Menschen verursachten Störungen qualitativ?
In der Tat gab es Störungen schon immer – genau deswegen können unsere Ökosysteme auch grundsätzlich gut mit Störungen umgehen. Durch Co-Evolution mit Störungen hat sich eine Vielzahl von Anpassungen an Störungen entwickelt, die unsere Ökosysteme resilient machen. Beispiele dafür sind die Fähigkeit, nach einer Störung aus schlafenden Knospen oder Stockausschlägen wieder auszutreiben, eine dicke Borke, die vor Feuer schützt, oder das Reaktionsholz, durch das Bäume hohen Windgeschwindigkeiten standhalten können. Menschliche Störungen liegen oft außerhalb dieser natürlichen Prozesse der Anpassung: Wenn wir etwa einen neuen Schaderreger in ein System einführen, dann fehlt unseren Bäumen die evolutionäre Anpassung daran, wie man am Beispiel des Eschentriebsterbens aktuell gut beobachten kann.
Warum gelangen derzeit gerade forstliche Ökosysteme zusehends an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit?
Wälder sind grundsätzlich sehr resiliente Systeme – nicht ohne Grund ist die natürliche Vegetation in Europa zu 80-90% von Wald dominiert. Aber Wälder sind auch langsame Systeme, Bäume brauchen zum Beispiel viele Jahre, bis sie das erste Mal Samen produzieren, und diese Samen verbreiten sich oft nur sehr lokal, was zu geringer Geschwindigkeit in der Ausbreitung führt etc. Zusammengefasst führt das dazu, dass Wälder oft lange brauchen, um sich an Veränderungen anzupassen. Wir befinden uns jedoch aktuell in einer Phase der sehr rapiden Umweltveränderung, die Geschwindigkeit der aktuellen Veränderung übersteigt die Reaktionsgeschwindigkeit von Wäldern um ein Vielfaches. Das Ergebnis dieser Diskrepanz sind die großen Störungswellen, die wir jetzt sehen. Denn Störungen bedeuten für das Ökosystem auch immer eine Chance auf eine Reorganisation und eine Anpassung an die neuen Bedingungen.
Wo sind Wälder – global gesehen – noch relativ resilient, wo nicht mehr? Wie ist das zu erklären?
Pauschal kann man hier keine Aussage treffen. Generell gilt aber, dass immer dort, wo wir jetzt schon nahe an einer Grenze sind, die Wahrscheinlichkeit auch größer ist, dass diese Grenze mit fortschreitendem globalem Wandel überschritten wird. Zum Beispiel überall dort, wo wir jetzt schon nahe an der unteren, trockenheits- und wärmebedingten Waldgrenze sind, könnte es in Zukunft schwierig werden, einen geschlossenen Baumbestand aufrechtzuerhalten.
Dort, wo wir jetzt schon nahe an der unteren, trockenheits- und wärmebedingten Waldgrenze sind, könnte es in Zukunft schwierig werden, einen geschlossenen Baumbestand aufrechtzuerhalten.
Störungen treten in Form von Wind, Feuer, Insekten- oder Pilzbefall sowie durch die anthropogene Landnutzung auf. Wie ist das Veränderungspotenzial dieser einzelnen Faktoren zu bewerten?
Abiotische Störungen wie Wind und Feuer werden direkt durch Wetterextreme ausgelöst. Da Wetterextreme im Klimawandel zunehmen, ist zu erwarten, dass diese Störungen auch häufiger auftreten werden. Aktuell sehen wir die stärksten Veränderungen in Europa jedoch bei den Borkenkäfern – da hat sich der Schadholzanfall in Europa in nur 20 Jahren verdoppelt. Grund dafür ist, dass die Borkenkäfer doppelt vom Klimawandel profitieren, einmal durch bessere Entwicklungsbedingungen, die zu mehr Käfergenerationen pro Jahr führen, und ein zweites Mal durch häufiger auftretende Dürren, was wiederum die Abwehrmechanismen der Bäume schwächt. Bei Pilzen ist die Lage etwas weniger klar, viele Pilze profitieren zwar generell auch von wärmeren Bedingungen, ob sie jedoch auch mit trockeneren Bedingungen umgehen können, hängt vom jeweiligen Pilz und dessen Lebensweise ab. Die Landnutzung ist zwar, ökologisch gesprochen, eine Störung, aber gleichzeitig anders zu bewerten als die natürlichen Störungen. Durch Landnutzung wie nachhaltige Waldbewirtschaftung können wir positive Effekte für die Menschheit erzielen, Landnutzung ist auch direkt steuerbar – was bei natürlichen Störungen nicht der Fall ist. Aber beide Elemente sind kommunizierende Gefäße: Wenn natürliche Störungen weiter zunehmen, müssen wir ggf. durch Anpassung der anthropogenen Störungen in der Landnutzung kompensieren. Denn auch wenn das Potenzial der Waldbewirtschaftung als Quelle von nachwachsenden Rohstoffen groß ist, so muss doch klar sein, dass ein exponentiell ansteigender Ressourcenbedarf nicht nachhaltig aus dem Wald gedeckt werden kann.
Lehrbuch Störungsökologie, Rupert Seidl et al.: Breiter Überblick zum Stand des Wissens © R. Seidl/TUM
Sie haben zusammen mit zwei weiteren Wissenschaftler*innen vor Kurzem das erste in deutscher Sprache erschienene Lehrbuch zu diesem Thema vorgestellt (sh. Bild). Wie kam es dazu und was wurde damit intendiert?
Das Buch ist deswegen entstanden, weil wir – Thomas Wohlgemuth (WSL), Anke Jentsch (Universität Bayreuth) und ich – schon länger zum Thema Störungsökologie gearbeitet haben, es jedoch für Studierende und interessierte Praktiker:innen keinen guten Einstieg in das Thema gab. Alle bisherigen Bücher zum Thema befassen sich v.a. mit der Situation in Nordamerika oder Australien und sind somit auf Englisch verfasst. Wir haben in der Arbeit am Buch dann gemerkt, dass uns eigentlich das komplette deutsche Fachvokabular zur Störungsökologie fehlt – was mitunter zu stundenlangen Diskussionen zu einem einzigen Begriff geführt hat. Das hat für uns nochmals unterstrichen, dass es wichtig ist, einen deutschsprachigen Einstieg in die Materie zu ermöglichen. Und auch die mitteleuropäische Perspektive war uns wichtig. Bei uns sind Störungen beispielsweise deutlich kleiner als in Nordamerika. Eine direkte Anwendung von in anderen Systemen entwickelten Konzepten ist also bei uns oft nicht ohne weiteres möglich. Ein wunderbarer Nebeneffekt des Buches war, dass durch dieses Projekt 34 Expert*innen aus Mitteleuropa zusammengekommen sind und sich zum Thema Störungen ausgetauscht haben. Das Arbeiten am Buch war also auch auf menschlicher Ebene sehr spannend und ich habe persönlich viel von den Kolleg*innen gelernt. Und mittlerweile gibt es auch eine englische Version des Buches. Nach Publikation des deutschen Buches haben uns viele Anfragen von Kolleg:innen aus den Nachbarländern erreicht, woraufhin wir im vergangenen Jahr eine Übersetzung herausgebracht haben.
Ist es denkbar, dass sich „Störungsökologie“ als wissenschaftliche Querschnittsmaterie als Disziplin etabliert und als eigenes Studienfach an forstlichen Fakultäten eingerichtet wird?
Unbedingt! Wobei man festhalten muss, dass viele Elemente der Störungsökologie auch in klassischen Fächern wie der Waldökologie und dem Waldschutz behandelt werden. Das Schöne am störungsökologischen Zugang finde ich jedoch die integrale Perspektive, also das Zusammenführen von Elementen der Ökologie, Klimatologie und des Waldbaus. Dieses Denken in Querschnittsmaterien ist ein wichtiger Ansatz, um den aktuellen Herausforderungen im Wald zu begegnen. Und die Störungsökologie enthält viele Beispiele, wie das funktionieren kann. Genau aus diesem Grund unterrichte ich unsere angehenden Förster:innen und Ressourcenmanager:innen an der TU München in der Störungsökologie.
Wo sehen Sie persönlich für sich künftige Forschungsschwerpunkte?
Aktuell treibt mich die Frage um, wie wir zukünftige Störungsregimes besser vorhersagen können. Um die Waldbewirtschaftung an geänderte Störungen anzupassen, müssen wir wissen, was auf uns zukommt – unsere Fähigkeit, Störungen auf größerer Fläche und unter unterschiedlichen Klimabedingungen vorherzusagen, ist jedoch immer noch sehr beschränkt. Eine damit im Zusammenhang stehende Frage sind die möglichen Auswirkungen von neuartigen Störungsregimes. Was bedeuten die sich ankündigenden Änderungen für die Bereitstellung von Ökosystemleistungen wie die Produktion von Holz oder den Schutz vor Naturgefahren, was bedeuten sie für die Artenvielfalt unserer Wälder? Auch bezüglich dieser Fragen stecken wir noch in den Kinderschuhen und es gibt noch viel zu lernen. Zu guter Letzt beschäftigt mich der Reorganisationsprozess, der nach einer Störung abläuft. Was determiniert, wie es nach einer Störung weitergeht? Warum sind manche Systeme resilient und erholen sich nach einer Störung schnell, während die Erholung in anderen Systemen sehr lange dauert oder unter Umständen ganz ausbleibt? Und können wir die aktuelle Welle an Störungen als Katalysator für die notwendigen Veränderungen im Wald nutzen? Es gibt noch viel zu tun!
Herr Seidl, vielen Dank für das Gespräch!