Rosemarie Stangl, Universität für Bodenkultur

Mit der Kraft der Wurzel

Ein Artikel von Robert Spannlang | 15.02.2017 - 13:14
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Rosemarie Stangl will Fachkontakte zu Forstleuten intensivieren.


Rosemarie Stangl ist frischgebackene Uniprofessorin. Im September hat die Niederösterreicherin den Lehrstuhl für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau an der Universität für Bodenkultur (Boku) übernommen.

Frau Prof. Stangl, Sie sind seit vergangenem September Institutsleiterin. Wie ist das erste Semester bisher gelaufen?

Sehr gut! Ich habe ja schon zuvor sehr lange mit meinem Vorgänger Prof. Florin Florineth am Institut zusammengearbeitet. In meinem vorigen Job als Koordinatorin der Kooperationen zwischen Boku und Umweltbundesamt hatte ich zudem sehr intensive Kontakte mit der Boku. Hier gibt es neben einer Vielzahl an gemeinsamen Projekten auch strategische Arbeit. Hier am Institut habe ich vorläufig die Vorlesungen von Prof. Florineth übernommen. Ich lese also die Grundlagen der Ingenieurbiologie, halte das Saatgutbestimmungs- und das Weidenpraktikum ab. Wir bedienen vorwiegend die Studienrichtung Landschaftsplanung und -architektur, lesen aber auch für die Forstwirte, Kulturtechniker und die Studienrichtung Alpine Naturgefahren.

Welchen Stellenwert hat Ingenieurbiologie in einem alpinen Land wie Österreich?

Nun, dieser Stellenwert ist nicht groß genug in der allgemeinen und politischen Wahrnehmung. Ganz im Gegenteil: In Küstenländern werden ingenieurbiologische Maßnahmen tendenziell häufiger angewendet als im alpinen Raum. Deutschland beispielsweise hat hier gute Traditionen, auch Asien wird zunehmend aktiv. In den USA gibt es die Ingenieurbiologie schon länger, bei der allerdings der Einsatz nachhaltiger Materialien nicht immer im Vordergrund steht.

Ist nicht die Tatsache, dass an der Boku mehrere Bachelor- und Masterstudenten Lehrveranstaltungen an Ihrem Institut haben, auch schon ein Garant dafür, dass die Ingenieurbiologie künftig hierzulande reüssieren wird?

Ja, das wäre natürlich unsere Hoffnung! Aber Berufseinsteiger haben oft nicht die Möglichkeit, Strukturen bei ihrem neuen Arbeitgeber zu verändern und ihre Visionen unmittelbar zu verwirklichen. Das braucht Zeit.

In der Forstwirtschaft nimmt man die Ingenieurbiologie tendenziell weniger wahr.


Univ.-Prof. Rosemarie Stangl

Was kann die Ingenieurbiologie in einem waldreichen Land wie Österreich leisten?

Grundsätzlich sind ingenieurbiologische Maßnahmen jene, die geeignete Pflanzen zur Sicherung erosionsgefährdeter Zonen nutzbar machen. Darüber hinaus können sie stark zur Erhaltung und Erhöhung der Biodiversität beitragen. Beides ist wichtig im Erosionsschutz, in der Schutzwaldbewirtschaftung und im Flächenmanagement. Aber hier gibt es noch bedeutenden Aufholbedarf in der Bewusstseins
bildung darüber, was Ingenieurbiologie wirklich alles leisten kann. Natürlich gibt es ebenso Bedarf an Forschung. Durch die Professur an der Boku gab Prof. Florineth der Forschung hierzulande einen großen Impuls.

Welche sind die leistungsfähigsten Pflanzen, die in der Ingenieurbiologie zum Einsatz kommen?

Praktisch alle heimischen Weidenarten. Denn sie sind als frisches Schnittmaterial in der Lage, aus schlafenden Knospen Adventivwurzeln und Triebe zu bilden. Aber auch andere Gehölze, die man bewurzelt einlegt, können entlang des Stammes Adventivwurzeln bilden. Mit geeigneten Pflanztechniken kann die Stabilisierung von Böden bis in 3m Tiefe erreicht werden. Das ist mit einer herkömmlichen Pflanzung nicht möglich. Über Dübelwirkung und sekundäres Dickenwachstum dicht liegender Stammteile ist diese Art von Hangsicherung sehr effizient. Freilich ist sie auch handarbeitsintensiv bei der Errichtung. Bei den knappen Projektbudgets kann das mitunter eine Herausforderung sein. Im Wasserbau hingegen sind – unterstützt von der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie – ingenieurbiologische Techniken schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Mittlerweile ist kein Flussrückbau ohne ingenieurbiologische Maßnahmen mehr denkbar. Da ist auch das öffentliche Bewusstsein klar auf unserer Seite.

Inwieweit ist Beton wirklich durch Pflanzen ersetzbar?

Nun, im Hochbau kann eine Pflanze Beton sicherlich nicht ersetzen, auch wenn sich mit Holz zunehmend spannende Möglichkeiten erschließen. Aber Pflanzen bieten sehr wohl Alternativen zur mineralischen Flächenversiegelung. Österreich ist leider bei Letzterem führend in Europa. Derzeit halten wir bald bei 20 ha Flächenversiegelung pro Tag. Und das wird uns eines Tages massiv auf den Kopf fallen. Die Versiegelung wird vorangetrieben von Flächenumwidmungen und vom Trend zu Gewerbevierteln und Shopping Cities. Dabei ist die Pro-Kopf-Verkaufsfläche in Österreich am größten in Europa. Dazu glaubt man, riesige asphaltierte Parkplatzflächen zu benötigen. Es fehlt an Sickerflächen und an Retentionskapazität. Das ist alarmierend. Hier ist die Politik gefordert, über die Agenden der Bauordnung und der Raumplanung steuernd einzugreifen. Heutzutage sollte die Integration von Parkraum in die Baustruktur state of the art sein.

Wie hat sich die Ingenieurbiologie in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Auch hier ist alles im Fluss. Insgesamt schlägt das Pendel wieder in Richtung „Biologie“. Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es viele begrüßenswerte politische Initiativen und Strategien, die Nachhaltigkeit, Biodiversität und Klimawandelanpassung fordern und fördern. Extrem bedeutsam ist das Klimaabkommen von Paris – auch deshalb, weil es das Zusammenwirken und die Bedeutung dieser Strategien noch zusätzlich stärkt. Das betrifft auch den Rohstoffplan und den Aktionsplan zur Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Und hier spielt die Ingenieurbiologie überall hinein. Dadurch wird ihre Bedeutung und Wahrnehmung noch ansteigen, da bin ich mir sicher.

Welchen Herausforderungen sieht sich die Ingenieurbiologie gegenüber?

Dass etwa Begrünungsbauten drei Monate nach Bauschluss grün sein müssen. Das ist manchmal schwierig zu bewerkstelligen, da braucht es noch viel Aufklärungsarbeit. Biobasierte Materialien kommen immer stärker zum Tragen, es gibt hier eine dynamische Produktentwicklung. Wir werden Materialien brauchen, die einerseits ganz rasch abbaubar sind. Andererseits benötigen wir aber auch solche, die dauerhaft und beständig sind – etwa in der Vertikalbegrünung von Bauwerken, die immer wichtiger wird. Sie sind UV-
Strahlung sowie Wind und Wetter ausgesetzt. Noch sind wir von der Performance dieser Materialien nicht dort, wo wir mit dem klassischen Kunststoff sind. Aber wir nehmen die Herausforderung an. Es gibt mittlerweile klare politische Bekenntnisse zur Bioökonomie und zur Forschungsstrategie. Der Landschaftsbau ist sehr materialintensiv und stark davon abhängig.

Gibt es Unternehmen im Land, die geeignete Materialien anbieten?

Das ist jetzt im Kommen. Es gibt einzelne Unternehmen, die sich dieses Themas angenommen haben. Das wird in Zukunft stark zunehmen. Mit neuen Förderungen etwa für Vertikalbegrünungen ist in den vergangenen Jahren auch das Interesse gestiegen. Da gibt es auch zahlreiche Kooperationen mit unserem Institut.

Gibt es ingenieurbiologische Referenzprojekte in Österreich?

Flussrenaturierungen sind gute Beispiele – etwa an der Drau, der Mödling und der Liesing. Es gibt erfolgreiche Projekte in der Rutschungsstabilisierung in der Verantwortung der Gebietsbauleitungen der Wildbach- und Lawinenverbauung. Ein von mir betreutes Projekt war in der Rutschung Fürwag bei Anthering. Dort konnten wir einen Hang mit Drainfaschinen erfolgreich stabilisieren. Im Rahmen meiner Dissertation über die Stambachmure bei Bad Goisern habe ich die Synergieleistungen zwischen technischen und biologischen Maßnahmen untersucht. Gerade diese Rutschhänge sind ein schwieriges Kapitel, weil sie sehr tiefgründig sind – mit heiklem geologischem Untergrund. Da gilt es vor allem zu verhindern, dass Wasser von oben eindringt. Das gelingt am besten durch Kronenschluss und Interzeption. Das übrige Wasser muss gezielt abgeleitet werden. Ein Problem ist, dass heute nur reaktiv gearbeitet wird und nicht proaktiv.

Womit hat das zu tun?

Oft ist es Geldmangel. Ein Positivbeispiel wäre die Wasserrahmenrichtlinie. Sie beinhaltet Auflagen, durch die der Gewässerzustand zu verbessern ist – und zwar nicht reaktiv, sondern proaktiv. In der Wildbachverbauung ist man gar nicht an die Wasserrahmenrichtlinie gebunden, der Schutz steht im Vordergrund. Entsprechend hoch ist dort der Anteil an Sicherheitsbauten aus Beton. Da freuen wir uns schon, wenn nicht vergessen wird, dazwischen mit Hydrosaat zu begrünen.

Mit welchen Fachbereichen an und außerhalb der Boku haben Sie am meisten Kontakt?

In meiner ersten Zeit der Mitarbeit am 
Institut hat es viel Kooperation mit Lawinen- und Wildbachverbauung gegeben, auch mit den Gebietsbauleitungen vor Ort. Ich werde mich bemühen, die Kontakte auch zu den jüngeren Kollegen wieder aufzunehmen. Teilweise gibt es Synergien mit dem Wasserbau, aber auch mit dem Institut für Alpine Naturgefahren, jenem für Waldbau und einigen mehr. Aber auch hier gibt es Nachholbedarf. In der Forstwirtschaft nimmt man die Ingenieurbiologie tendenziell eher weniger wahr, etwa im Forstraßenbau. In einem vom Untergrund her unproblematischen Wirtschaftswald hat man sicherlich andere Ziele. Aber gerade in der Erschließung, da sehe ich mitunter Böschungssicherungen, für die ausschließlich Zyklopensteine verwendet wurden. Es gibt kaum eine Einbindung von Pflanzen, obwohl der Beitrag zum Böschungsschutz enorm wäre – das stört mich schon. Da wäre es schon notwendig, ein anderes Bewusstsein zu schaffen. Aber ich hoffe, dass sich die Bodenschutzrichtlinie der EU doch irgendwann etabliert. Die ist ja zurzeit in einer Revisionsphase. Ich hoffe, dass im Zuge dessen auch auf die Bodensicherung und die Schutzbereiche Rücksicht genommen wird.

Wie beeinflusst die allgegenwärtige Diskussion um den Klimawandel den Stellenwert der Ingenieurbiologie? Spielt Ihnen die Zeit nicht in die Hände?

Ich hoffe schon! Ich sehe es besonders deutlich in Siedlungsbereichen oder der Entsiegelung von Flächen. Da ist der Erosionsschutz besonders wichtig. Ich glaube, dass die Zeit für uns läuft, schon alleine wegen der Maßnahmen zur Klimaanpassung. Die Abkommen zum Klimaschutz zeigen ja auch, dass politische Verantwortung einen anderen Stellenwert bekommt, da wächst auch der Druck auf die Behörden. Daher denke ich, dass nachhaltige Vegetationstechniken insgesamt wieder wichtiger werden. Hier schließt sich der Kreis. Mein Vater hat das schon als Kind am elterlichen Bauernhof erlebt: Sie haben damals unbewusst ingenieurbiologische Methoden zum Uferschutz angewendet. Einfache Beobachtung hat sie dazu geführt, nicht die Wissenschaft. Heute kann man beides vereinen.

Frau Prof. Stangl, besten Dank für dieses Gespräch!