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Mercedes X-Klasse: ein ganzer Kerl © R. Spannlang

Fahrbericht Mercedes X-Klasse 220d Progressive

Old Shatterhand

Ein Artikel von Robert Spannlang | 04.01.2019 - 12:15

Wer heute als Autohersteller Männlichkeit demonstrieren will, kommt um ein Pick-up-Modell nicht herum. Mercedes hatte sich bisher – abgesehen von einem in geringer Stückzahl produzierten und heute überaus gesuchten G-Modell mit Pritsche – drumherum gedrückt. Damit ist jetzt Schluss: Erstmals 2016 auf der IAA in Frankfurt als ziemlich martialische Studie vorgestellt, ist die X-Klasse nun als eine (leider) in vielen Designdetails stark entschärfte Version auf unsere Straßen gelangt. Anstatt mit gestalterischer Angeberpose glänzt sie lieber – ganz nach Mercedes-Manier – mit Solidität und Robustheit.

Ein Weltenbürger
Dabei ist der Mercedes X gebürtiger Spanier – er wird im Nissan-Werk in Barcelona erzeugt – und trägt auch technisch viele Komponenten des japanischen Autoherstellers in sich: Angefangen beim Fahrgestell und bei den schwächeren beiden Dieselmotoren über die Türportale bis hin zum unteren Teil des Armaturenträgers samt Schaltern ist vieles japanischen Ursprungs – was ja, wie wir wissen, beileibe nichts Schlechtes bedeuten muss. Anders als beim nachgereichten Zwillingsbruder des Mitsubishi L200 – den bis auf einige kosmetische Unterschiede baugleichen Fiat Fullback – ist die Verwandtschaft zwischen Mercedes X-Klasse und Nissan Navara aber bei Weitem nicht so eng. Die Mercedes-Ingenieure halten sich zugute, in der Federung, Geräuschdämmung und Motorenkennlinie noch Feinarbeit geleistet zu haben. Auch die Karosserie ist bei der X-Klasse um 70 mm breiter als beim Navara.
Aber Hand aufs Herz: Die ersten Überlandkilometer mit dem Mercedes wiesen schon eindeutig in Richtung hemdsärmeliger Straffheit. E-Klasse-verwöhnte Speckgürtelbewohner Wiens würden hier wohl ein wenig die Augenbrauen hochziehen. Der VW Amarok – wohl der schärfste Konkurrent der X-Klasse in diesen Breiten – hat an der hinteren Starrachse Blattfedern, wo der Mercedes Schraubenfeder-Dämpfer trägt, ist aber dabei um nichts weniger komfortabel, eher im Gegenteil. Auch der Motor – wir fuhren die 220 d-Basisversion mit 6-Gang-Handschalter – klingt nach wie vor recht kernig, wird aber trotzdem nie unangenehm laut.
Je länger man jedoch mit der X-Klasse unterwegs ist und je ausgedehnter die Offroad-Etappen werden, desto mehr verwächst man als Fahrer mit dem Wagen zu einer Einheit. Daran den größten Anteil haben sicherlich die formidablen Sitze, für die die Stuttgarter Autoschmiede weltweit bekannt ist. Die straffe Federung macht auf unebenen Forststraßen gute Figur und lässt auch in forsch gefahrenen Kurven am Asphalt kaum Nickbewegungen zu. Von tadelloser Verarbeitung und Unerschütterlichkeit zeugt auch die völlige Abwesenheit jeglicher Knarz- und Klappergeräusche – selbst bei am Scheitelpunkt schräg angefahrenen Geländekanten.

Allrad vom Feinsten
Der Allradantrieb lässt für die Vielfalt forstlicher Anforderungen keine Wünsche offen. Mittels eines Schalters an der Mittelkonsole stellt man von Hinterradantrieb („2H“) auf Allradantrieb („4H“) und nach Lösen einer Drehsperre über einen Druckknopf auf Allrad mit Geländeuntersetzung („4L“). Zum Drüberstreuen gibt es sogar noch eine hintere Differenzialsperre – siehe schräg angefahrene Geländekante. Ein Amarok etwa kann damit nicht aufwarten.
Was die Wolfsburger aber wohl noch mehr ärgern dürfte, ist der Einstiegspreis der X-Klasse: Mit knapp unter 30.000 € haben die Stuttgarter nämlich hier die Nase vorn. Dafür bietet VW von der Basis weg den bulligen Vortrieb geschmeidiger V6-Motoren.

Ich muss zugeben: Als passionierter Jeep-Fahrer war ich anfänglich gegenüber der Geländekompetenz der Mercedes X-Klasse skeptisch. Aber schon nach wenigen Metern einer steilen Bergauffahrt mit der Getriebeuntersetzung war ich angenehm überrascht. Eine ebenso steile Talfahrt war mit der tollen Bergab-Gleitfahrfunktion beinahe ein Kinderspiel. Die Sitze sind wirklich bequem. Man müsste von Mercedes als Testfahrer ein besonderes Angebot kriegen. Da könnte sich der eine oder andere glatt für die X-Klasse erwärmen.


Erwein Gudenus, Eigentümer Forst- und Gutsverwaltung Thannhausen bei Weiz

Die Sache mit der Linken
Ein wenig befremdlich ist freilich die Bedienung links vom mercedestypisch wohlgeformten Volant. Autos mit dem Stern liegt seit jeher ein Querdenker-Ansatz in Sachen Multifunktionshebel-Philosophie zugrunde. Von der Gangschaltung über Lenkerhebel hat man bei der X-Klas­se wohl Abstand genommen. Aber dort, wo diese normal sitzt – rechts vom Lenkrad –, zeigt sich hier nämlich gähnende Leere. Dafür findet man zwei Funktionshebel linksseitig – oben Blinker, Lichthupe und Scheibenwasch-Bedienung, darunter Tempomat. Letzterer verlangt vom Fahrer in der Anfangsphase, sagen wir, erhöhte Aufmerksamkeit. Bedientechnisch ist dies bei Mitbewerbern – auch jener fernöstlicher Provenienz – einfacher und einleuchtender gelöst. Distronic sucht man als gelernter Mercedesfahrer überdies bei der X-Klasse vergebens – wohl ein Zugeständnis an die sonst sehr solide Plattform, die man sich mit Nissan teilt.

Fazit
Die X-Klasse ist das ideale Fahrzeug für forstlich und jagdlich Tätige, die auch auf anspruchsvollen Forststraßen unter schwierigen Bedingungen sicher und gediegen unterwegs sein wollen und dabei auf eine elegante Erscheinung ihres Fahrzeugs Wert legen. Bereits für vergleichsweise wenig Geld kriegt man hier technisch viel geboten – und dazu auch noch das Extra-Quäntchen an Prestige.

Mercedes X 220 d 4MATIC Progressive

  • 163 PS, 400 Nm ab 1.500 U/min, Spitze 170 km/h, 6-Gang-Schalter
  • Verbrauch (getestet): 9,3 l/100 km
  • Preis: 36.280 € netto
  • Zuladung: 1.040 kg
  • Anhängelast gebremst: 3,5 t
  • Ausstattung: Multifunktionslenkrad und Schaltknauf in Leder, Sitzheizung vorne, Tempomat, Nebelscheinwerfer, 8-fach-Lautsprechersystem, Bergab- und Berganfahrhilfe, zuschaltbarer Allradantrieb mit Getriebeuntersetzung, sperrbares Differenzial hinten, Regensensor, Rückfahrkamera, Spurhalteassistent, Reifendrucküberwachung uvm.